„Welcome on board!”, begrüßten mich zwei Piraten beim gemütlichen Schlendern durch Halle 2 der diesjährigen SPIEL in Essen. Und da ich gerade ein wenig Zeit zwischen den Terminen hatte, gingen mein Kumpel und ich tatsächlich an Bord und ließen uns das strategische 2-Personen-Spiel Turning Tideserklären, das noch für gut zwei Wochen auf Kickstarter läuft und noch den ein oder anderen Unterstützer braucht, um vollständig gefundet zu werden.
Wie man dem stimmungsvoll-bedrohlichen Cover unschwer entnehmen kann, liefern sich die Kontrahenten hier eine Schlacht auf hoher See mit Kanonen und von Schiff zu Schiff schwingenden Seeleuten. Hierbei spielt man verschiedene Aktionskarten aus, blufft was das Zeug hält und versucht, das gegnerische Schiff entweder umfassend zu beschädigen oder die gesamte Crew, inklusive des Kapitäns, vom Schiff zu fegen. Also setzt die Segel und macht die Kanonen feuerbereit, ehe der Wind sich wieder dreht!
Material
Das Material in Turning Tides ist überschaubar, schlicht und dennoch sehr ansprechend und vor allem hochwertig gestaltet. Allerdings hängt die Materialqualität wohl letztlich von der Höhe des pledge ab, mit dem ihr einsteigt. Die Formen, die ihr auf den Bildern seht, sollten also größtenteils dieselben sein, doch Material und Farben könnten in der finalen Version noch abweichen. Im Kern stehen jedenfalls die zwei 2D-Schiffe, die am Rand wellenförmig ausgeschnitten sind, sodass sie später Welle für Welle weiter aneinander vorbei navigieren können. Jeder Spieler hat zudem ein Set aus 12 Aktionskarten mit ordentlicher Qualität sowie einen Mast, vier Kanonen, vier Seeleute und einen Kapitän in seiner Farbe. Darüber hinaus gibt es noch einen Initiativemarker aus dicker Pappe sowie sechs Totenkopf-Tokens, die später zerstörte Schiffsteile anzeigen. Fürs Material gibt es also alles in allem schonmal ein Plus. Doch der Otto-Normal-Viel-oder-wenig-Spieler wird wohl ein wenig mehr als nur schönes Material erwarten, drum werfen wir als nächstes einen genauen Blick auf den Spielablauf, ehe wir uns den Stärken und Schwächen von Turning Tides sowie der Frage widmen, ob es sich nun letztlich lohnt, das Projekt zu unterstützen.
Ablauf
Jedes der Schiffe ist in sieben Segmente unterteilt und bei Spielstart hat jeder Spieler insgesamt zwei Seeleute, eine vom gegnerischen Schiff wegzeigende Kanone, einen Mast sowie den Kapitän, die sich allesamt auf drei der zentralgelegenen Segmente verteilen. Und dann läuft die Partie zunächst so ab, dass jeder Spieler neben der Wait-Karte eine weitere seiner Aktionskarten auf die Hand zieht und sich dann entweder für die Wait-Karte oder die neu auf die Hand gezogene Aktion entscheidet. Diese Phase verläuft parallel und sobald sich beide Spieler entschieden haben, werden beide verdeckt ausliegenden Karten umgedreht und die Aktionen werden nacheinander ausgeführt, wobei es eine festgelegte Reihenfolge gibt, in der die Aktionen abgehandelt werden (dazu später mehr). Ausgespielte Karten kommen auf den eigenen Ablagestapel, der erst dann wieder gemischt und schrittweise auf die Hand genommen wird, wenn sich beide Schiffe einmal komplett passiert haben. Ausnahme ist hier die Wait-Karte, die immer wieder zurück auf die Hand kommt, sodass man beim Nachziehen im darauffolgenden Zug ggf. sogar drei Aktionskarten zur Auswahl hat.
Doch welche Aktionen gibt es nun? Es gibt jeweils eine Aktion, die es erlaubt einen weiteren Seemann auf einem beliebigen eigenen Segment zu platzieren, solange noch einer im eigenen Vorrat vorhanden ist, und eine andere die es erlaubt eine neue Kanone entsprechend zu platzieren. Eine andere Aktion erlaubt es, einen beliebigen seiner Seeleute, eine der Kanonen oder den Kapitän selbst auf ein beliebiges seiner eigenen Segmente umzuplatzieren. Des Weiteren gibt es durch eine Aktion die Möglichkeit dafür zu sorgen, dass sich die Schiffe um ein Feld schneller passieren oder sich sogar um eines zurückbewegen. Und dann gibt es noch zwei Karten, mit denen man angreifen kann: einerseits eine Aktion, mit der man mit einem beliebigen seiner Seeleute (nicht dem Kapitän) auf das gegenüberliegende Segment schwingen kann, um dort einen Seemann, oder falls nicht vorhanden den Kapitän, vom Schiff zu schmeißen, ehe man wieder zum eigenen Schiff zurückschwingt; andererseits gibt es noch die Aktion, mit der man mit einer seiner Kanonen auf das gegenüberliegende Segment schießen kann, sofern mindestens ein Seemann (nicht der Kapitän) auf demselben Segment wie die feuernde Kanone steht. Trifft man mit der Kanone das Feld mit dem Mast, wird nur dieser entfernt, trifft man ein Segment ohne Mast werden alle sich darauf befindenden Seeleute, Kanonen und auch der Kapitän entfernt, und trifft man ein komplett leeres Segment, so wird dieses unwiderruflich zerstört, sodass der Gegner es von nun an nicht mehr zum Platzieren neuer Figuren nutzen kann.
Und bei all diesen Aktionen gilt, dass immer erst Seeleute und Kanonen platziert werden, anschließend Bewegungsaktionen – entweder von einer Figur oder dem Schiff (wie oben beschrieben) durchgeführt werden und dann erst die Angriffsaktionen, wobei das Schwingen vorm Schießen kommt. Sollten jedoch beide Kontrahenten eine Aktion derselben Initiativestufe gewählt haben, entscheidet der Initiativemarker, der immer zu dem Spieler wechselt, der auf irgendeine Art und Weise getroffen wurde oder der bei der Schiffsbewegungsaktion auf das Bewegen der Schiffe verzichtet. Sollte einmal der eigene Kapitän vom Schiff gefegt werden und noch mindestens ein anderer Seemann an Bord sein, wird die als nächstes ausgespielte Aktion automatisch negiert und einer der eigenen Seemänner wird zum Kapitän befördert, indem der Seemann entfernt und der Kapitän an dieselbe Stelle platziert wird. Allerdings ist diese Aktion auf der Initiativeskala prinzipiell als letztes dran, sodass es durchaus passieren kann, dass man zwar beim Ausspielen der Karte noch einen Seemann hat, dieser jedoch noch vom Schiff gestoßen oder geschossen wird, ehe man ihn zum Kapitän befördern kann, und ohne Crew hat man natürlich sofort verloren.
Am Ende eines Zugs, nachdem alle Aktionen ausgeführt wurden, bewegen sich die Schiffe so oder so um ein Feld weiter aneinander vorbei, sodass sich nun jeweils andere Segmente gegenüberstehen. Sollten einmal beide Kontrahenten parallel die Wait-Karte spielen, rücken die Schiffe ein zusätzliches Segment weiter, wohingegen die Karte selbst kein Effekt hat, sollte nur einer sie spielen. Dennoch kann es Sinn machen, hin und wieder auch die Wait-Karte zu spielen, denn abgesehen davon, dass man auf diese Weise mehr Handkarten für den darauffolgenden Zug zur Verfügung hat, darf man am Rundenende, also wenn sich beide Schiffe einmal komplett passiert haben, übriggebliebene Handkarten (falls vorhanden) beliebig mit den Karten des eigenen Extravorrats tauschen, ehe es in die neue Runde geht. Vorher werden sich die Schiffe jedoch noch um 180° drehen und sich nun mit den jeweils anderen Schiffseiten (und Kanonen?) gegenüberstehen. Sollte man jedoch bereits zerstörte Segmente haben, stehen einem zu Rundenbeginn weniger Aktionskarten zur Verfügung als sonst.
Die Partie endet schlussendlich sofort, sobald entweder einer der Kontrahenten keine Crewmitglieder – also weder einen Seemann noch den Kapitän – mehr hat, oder das dritte Segment eines Schiffs zerstört wurde. Dem Sieger winkt Ruhm und Ehrfurcht, während der Verlierer – sofern er nicht ertrinkt – als Gefangener auf ewig das Deck schrubben darf… Also wählt eure Aktionen mit Bedacht und lockt den Kontrahenten gekonnt aus der Reserve!
Fazit
Es ist ja schon länger bekannt, dass die Holländer mehr können als Pommes und Tulpenkultivierung, und auch Turning Tides zeigt dies einmal mehr. Denn hier haben die Verlagsneulinge mit ihrem Erstlingswerk ein wirkliches schönes 2-Personen-Spiel aus ihren Holzschuhen gezaubert. Na gut, genug mit den Stereotypen, konzentrieren wir uns lieber aufs Spiel selbst.
Im Grunde bietet Turning Tides die richtige Mischung aus Strategie, Bluff und Kurzweiligkeit. Dadurch, dass die Auswahl der Aktionskarten parallel verläuft, gibt es kaum bis gar keine Downtime und das Spiel spielt sich insgesamt recht flott und wird dabei nie langweilig, da man sich ständig fragt, was der Gegner nun vorhat und wie man am besten darauf reagiert. Und obwohl einem neben der Wait-Karte insgesamt nur sechs verschiedene Aktionen zur Verfügung stehen, weiß man einerseits nicht, welche Karten das Gegenüber bereits gezogen hat, und andererseits natürlich auch nicht, welche der Aktionen er oder sie nun spielen wird.
Spiele ich also meine wertvolle Kanonenfeuer-Karte oder erwarte ich eine Schiffsbewegungsaktion meines Gegners, die es ihm erlauben würde, das Schiff so zu bewegen, dass ich mit meiner Kanone nur den Mast treffe. Oder noch schlimmer: bevor ich überhaupt schießen kann, wird der Seemann, der die Kanone hätte abfeuern sollte, von einem gegnerischen Seemann von Bord gekickt… Uff… das tut weh, denn nun habe ich keine Feuern-Karte mehr, außer wir befinden uns bereits in der zweiten Runde und ich habe ein paar Karten mit denen des Extravorrats tauschen können…
Und möchte ich eine neue Kanone platzieren, so kann ich sie natürlich so platzieren, dass sie noch in der aktuellen Runde potenziell aufs gegnerische Schiff feuern kann. Vielleicht platziere ich sie aber auch auf die gegenüberliegende Seite und versuche die Runde möglichst rasch zu beenden, damit sich die Schiffe drehen und meine zuvor platzierte Kanone nun eine echte Bedrohung für den Kontrahenten darstellt. Solche Entscheidungen sind ständig zu treffen und sorgen beim Aufdecken der ausgespielten Karten immer wieder für Emotionen, sei es Verärgerung oder Schadenfreude, je nachdem, wie gut ich die Pläne meines Gegenübers zuvor eingeschätzt habe.
Allerdings sollte jedem klar sein, dass trotz der klar vorhandenen Strategie auch ein Glücksmoment mitschwingt, da ich ja zu Beginn eines Zugs eine zufällige Karte ziehe und mir vielleicht bis ganz zum Schluss einfach keine Kanonenfeuer-Karte zur Auswahl steht, und es mir am Ende dann auch nichts mehr bringt sie zu ziehen. Dennoch halte ich dieses Glücksmoment insofern für wichtig, als dass man nie weiß, welche Aktionen mein Kontrahent nun konkret ausspielen kann, wobei es natürlich mit jeder gezogenen Karte immer wahrscheinlicher wird, dass ich beispielsweise durch Kanonen attackiert werden kann. Diese Wissenslücke sorgt für Extraspannung und das Spiel lebt natürlich genau von dieser ständigen Spannung.
Besonders elegant finde ich die Grundidee der sich immer wieder auf verschiedenen Seiten passierenden Schiffe sowie die Möglichkeit, am Rundenende einzelne Handkarten je nach den aktuellen Gegebenheiten auszutauschen. Allerdings wird das natürlich immer schwieriger, je mehr Segmente meines Schiffes bereits zerstört wurden. Drum sollte man sich überlegen, ob man versucht schnell zu gewinnen, indem man schnellstmöglich die Crew des Gegners vom Schiff katapultiert, oder ob man doch auf eine langsame Zerstörung des gegnerischen Schiffs setzt – oder eine Mischung aus beidem? Und im Grunde hängt all das natürlich auch von der Verteilung der Crew und der Kanonen meines Kontrahenten ab. Hat er zwei Kanonen und zwei Seemänner sowie den Kapitän auf demselben Feld ist das natürlich mit dem Risiko verbunden, mit einem Kanonenschuss alles zu verlieren, andererseits ist dann auch nur dieses Feld ein lukratives Abschussziel, sofern man nicht versucht, Schiffssegmente des Gegners zu zerstören – wobei diese vielleicht durch die ein oder andere platzierte Kanone beispielsweise „geschützt“ werden.
Es steckt also einiges drin in diesem vom Regelwerk her doch recht simplen Strategiespiel und ist dadurch auch für die Kenner und Vielspieler unter euch einen Blick wert. Ich persönlich werde das Spiel in meiner Sammlung behalten und finde, dass es mein Repertoire an 2-Personen-Spielen (und ich habe doch einige) nochmals erweitert und aufwertet. Von mir gibt es also einen Daumen hoch und ich drücke dem Verlag denselben Daumen – und den zweiten noch dazu –, dass das Spiel vollständig gefundet wird. Sollte diese Rezension also euer Interesse geweckt haben, würde ich vorschlagen, ihr werft mal einen Blick auf die noch laufende Kampagne. Ich wünsche jedenfalls viel Spaß mit Turning Tides. Ahoi!
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Turning Tides von Jasper Wille, Pepijn van den Bosch und Rick Brune
Erscheint bei Never Be Boardgames
Für 2 Spieler in ca. 30 Minuten ab 14 Jahren
sämtliche Bilder sind von uns selbst erstellt oder vom jeweiligen Pressematerial des Verlages (hier Never Be Boardgames)