Ein Geständnis vorweg: Der Rezensent ist Generation Sim City. Ich habe vor gut 30 Jahren Stunden über Stunden mit Will Wrights Städtebausimulation am Amiga und dem PC zugebracht. Das Spiel hat mich damals immens gekickt. Weiterhin hat es nachhaltigen Einfluss auf meine brettspielerische Sozialisation genommen: I am a fool for City-Building. Haltet mir eine Box mit Städtebauthema hin und mein Interesse ist schon geweckt. In all den Jahren hat sich aber leider kein Spiel gefunden, welches bei mir ein wirkliches Sim City-Gefühl bezogen auf unsere Spielewelt aus Pappe und Holzteilchen hat entstehen lassen.
Am ehesten hat das vielleicht noch bei Suburbia von Lookout geklappt, welches ich wirklich gerne spiele. Etliche andere Städtebauspiele transportierten das Spielgefühl des Städtebauens für mich aber nicht wirklich. Das Grundproblem: Der Reiz der Städtebausimulation liegt in der Wechselwirkung. Stichworte hier: Industrie, Wohngebiete, Einwohnerzahlen, Arbeitslosigkeit... Viele Faktoren also, welche sich bedingen. Ein Computerspiel kann einem so etwas gut abnehmen. Ich platziere ein Gebäude. Der PC berechnet die Wechselwirkungen mit umliegenden Gebäuden und macht dann halt was. Brettspiel hingegen lebt von der Abstraktion - vom Herunterbrechen. Da haben es Spiele mit Simulationsanspruch einfach schwer. Schnell wird es episch wie bei Urban Sprawl, grüblerisch wie bei Town Center oder eben wie bei Suburbia sehr prozessual weil man in jedem Spielerzug systematisch die Wechselwirkungen des neuen Gebäudes mit bereits liegenden Gebäuden in allen Vororten prüfen muss.
Städtebau im Brettspiel zu simulieren gleitet also schnell in die Expertenspielecke ab. Es gibt zwar auch Spiele, welche das zugänglicher umsetzen wie beispielsweise Card City oder Big City. Ein wirkliches Städtebaugefühl, wie ich es mir herbeisehne kommt bei mir dabei aber nicht auf.
Beim vorliegenden My City stellt sich mir dementsprechend natürlich sofort die folgende Frage: Kann dieses Spiel endlich meine Städtebaugelüste befriedigen?
Der Claim Deine Stadt wird einzigartig in Verbindung mit bunten, detaillierten Gebäuden in Tetrisformen, welche vom Himmel herab sich sanft in Baulücken senken, macht da schon große Hoffnung. Verspricht das stimmungsvolle Städtebild auf dem Schachteldeckel zu viel oder liefert der Grandseigneur der deutschen Autorenschaft Dr. Reiner Knizia mir endlich mein erhofftes Herzensspiel? Wagen wir also eine Blick in die Box bzw. erst einmal auf die Schachtelseite. Mit My City halten wir ein Spiel für 2-4 Spielern ab 10 Jahren in den Händen, welches 30 Minuten pro Partie dauern soll. Soviel zu den Schachtelangaben.
Die kurze Spielzeit von 30 Minuten pro Partie deutet schon darauf hin: Ein wirkliche Städtebausimulation wird sich auch in diesem Spielekarton nicht finden lassen. Dafür aber einiges anderes an Innovation. So offenbart uns der Blick in die Spielschachtel, eine Anleitung, vier doppelseitige Spielpläne, acht verschlossene Briefumschläge, einen Satz Spielkarten, vier Wertungsmarker und 24 tetrisgeformte Gebäudeplättchen für jeden Spielenden. Das wirkt erst einmal was das Spielmaterial angeht übersichtlich, ist aber nicht alles. Bei My City handelt es sich nämlich um ein sogenanntes Legacy-Spiel. Berühmteste Vertreter dieser Gattung sind wohl Risiko Evolution und Pandemic Legacy. Spiele dieses Zweiges eint, dass sich die Spiele im Laufe der Zeit verändern. Teilweise von Partie zu Partie, manchmal auch mitten im Spiel. Spielbretter werden beschriftet, beklebt, neues Material hinzugefügt, anderes Material entsorgt.
Gleiches geschieht auch bei My City Das Spiel verändert sich von Partie zu Partie. Die acht Briefumschläge stehen für acht Kapitel im Entstehen unserer Stadt. In jedem Umschlag enthalten sind die Regeln für drei Partien My City Das Spiel lässt sich folglich über 24 Partien hinweg mit stets leicht unterschiedlichen Regeln und Spielelementen spielen.
Sehr sympathisch bei My City ist, dass das Spiel nach 24 Partien nicht "ausgespielt" ist. Andere Legacy-Spiele wie Pandemic Legacy kann man nämlich nach erstmaligen Durchspielen getrost entsorgen. Sie sind verbraucht und lassen sich nicht mehr nutzen. Nicht so bei My City. Die vier Spielbretter für die Spieler sind doppelseitig bedruckt. Eine Seite ist hierbei für das sich verändernde Legacy-Spiel gedacht. Die andere Seite ist dem ewigen Spiel gewidmet. Hier kann man mit den Spielregeln wie sie im Legacy-Spiel ungefähr bei Partie 10 gelten würden, immer wieder My City spielen.
Das ist fair und eine gute Neuerung. Welchem Spieler blutet nicht das Herz, wenn er hochwertiges Spielmaterial entsorgt. So steht mein durchgespieltes Pandemic Legacy auch nach vier Jahren noch sinnlos im chronisch überfüllten Spieleregal. My City tut hier im ökologischen Sinne also etwas für das gute Gewissen. Die Zeit wird zeigen wie sehr das Spiel ohne den Reiz der Neugier auch dauerhaft seinen Platz auf dem Spieletisch findet.
Gesagt sei an dieser Stelle: Neugier ist bei My City ein sehr treibendes Element. Man will wissen was als nächstes kommt. Ein Ziel, welches wir ins Auge fassen, ist häufig der nächste Umschlag. Was mag sich wohl darin verbergen? Diese Neugier will ich an dieser Stelle auch nicht kaputt machen und bemühe mich nicht zu spoilern was an Spielelementen und Regeln dazu kommt.
Die Grundelemente des Spiels mag ich aber benennen. My City ist ein kartengesteuertes Spiel. Die 24 beiliegenden Spielkarten entsprechen den jeweils 24 Gebäuden der Spielenden. Jeder Gebäudeform ist drei mal enthalten, jeweils in den Farben rot, gelb und blau. Eine Partie My City vollzieht sich nun so, dass in jedem Spielzug eine Spielkarte aufgedeckt wird und alle Spielenden zeitgleich das abgebildete Gebäude auf dem eigenen Spielplan platzieren müssen. Dafür gibt es Bauregeln, welche das Platzieren auf den verschiedenen Landschaftsfeldern des Spielplans regeln. Diese Regeln sind überschaubar und in wenigen Sätzen den Mitspielenden erklärt. Die initialen Regeln des Spiels umfassen im Grunde knapp vier sehr gut bebilderte Seiten.
Da mit Auftauchen neuer Spielregeln, alte Regeln oftmals auch wieder verabschiedet werden, bläht sich das Spiel auch im weiteren Partienverlauf nicht auf. Die Spielzeit von knapp 30 Minuten pro Partie bleibt auch in späteren Partien noch realistisch. Da komplett parallel agiert wird, hat auch die Anzahl der Mitspielenden kaum Einfluss auf die Spieldauer. Große Teile des Spielgeschehens finden auf dem eigenen Brett statt und es lohnt sie meist nicht darauf zu achten was die anderen machen. Im Laufe der Kampagne kommen aber auch Elemente ins Spiel die dies ändern und durchaus einmal den Blick auf die Stadt des Gegenübers lenken.
Auf dem Startspielplan finden sich jedenfalls viele hellgrüne Felder, Waldfelder, Gebirgefelder, einzelne Bäume und Steine. Weiterhin teilt ein Fluss unser Spielbrett. Angrenzend an diesen Fluss platzieren wir unser erstes Gebäude und dürfen dieses frei ausrichten. Es darf nur nicht über den Fluss selbst oder den Spielplanrand ragen. Andere Gebäude legen wir dann an zuvor gelegte Gebäude an. Dabei ist zu beachten, dass Wald und Gebirge nicht überbaut werden dürfen.
Eine Partie endet, wenn alle Spieler gepasst haben. Dies passiert in der Regel sobald sie kein Gebäude mehr auf ihrem Spielplan platzieren können. Danach kommt es zur Punktezählung. So gibt es in der ersten Partie für jeden nicht überbauten Baum einen Pluspunkt und für jeden noch zu sehenden Stein einen Minuspunkt. Nicht überbaute hellgrüne Felder geben ebenfalls einen Minuspunkt. Wir starten diese erste Partie bereits mit 10 Punkten. Diese kommen zu den eben gewerteten Punkten auch noch dazu. Eventuell sind es auch weniger als 10 Punkte, denn man kann im Laufe der Partie Punkte dazu nutzen eine Karte zu überspringen. Dann gibt man einen Punkt ab und braucht ein missliebiges Gebäude nicht zu setzen.
Am Ende einer Partie gewinnt derjenige Spieler, welche die meisten Punkte erzielt hat. Als Belohnung dafür gibt es Fortschrittspunkte, welche man sich auf einer Skala des eigenen Spielbretts aufmalen darf. Wer nach Abschluss von 24 Partien My City die meisten Fortschrittspunkte erzielt hat, der darf sich der Gesamtsieger der Kampagne nennen.
Den besagten Umschlägen liegen neben neuem Spielmaterial auch immer Regelzettel bei. Auf diesen sind stets die Regeländerungen für die drei Spiele des Kapitels beschrieben. Jedes Spiel wird immer ein wenig anders sein. Weiterhin sind auf den Regelzettel für die einzelnen Partien auch Übersichtstafeln abgedruckt. Diese besagen, welche Konsequenzen die jeweiligen Platzierungen für die Spielenden haben: In jedem Fall Fortschrittspunkte für den ersten und zweiten Platz, meist aber auch Aufkleber.
Mit eben jenen Aufklebern verändert sich My City nun im Laufe der Partien ähnlich stark wie durch die stets neuen Regeln. Die Spielbretter mit dem die Spielenden in My City starten sind nämlich identisch. Durch die Aufkleber, welche im Laufe der Partien verteilt werden individualisieren sich die Spielbretter aber zunehmend. Dabei erhalten Gewinner von Partien in der Regel eher unschöne Dinge wie Steinaufkleber, welche sie zu kleben haben. Verlierer einer Partie erhalten im Gegenzug beispielsweise gern gesehene Baumaufkleber.
Mit diesem Catch-Up-Mechanismus macht My City meines Ermessens etwas richtig was bei vielen Legacy-Spielen meiner Ansicht nach nicht so gut funktioniert. Im Laufe einer My City-Kampagne wird nämlich keine Engine aufgebaut. Die Anpassungen durch die Aufkleber sind eher minimal, quasi ein Trostpflaster. Niemand startet eine Partie bereits mit einer Killer-Kombo. Derartiges gibt es hier nicht. So startet man in jede einzelne My City-Partie bis zum Schluss ergebnisoffen und es bleibt spannend. Gut vorstellbar ist aber natürlich schon, dass im letzten Kapitel eine Spielerin bereits einen so großen Vorsprung an Fortschrittspunkten hat, dass ein Spielsieg für die anderen Städtebauer ausgeschlossen ist. Außer den am jeweiligen Partienende zu vergebenden Fortschrittspunkten werden im Laufe der Kampagne weitere Wege bekannt Fortschrittspunkte zu sammeln und man erfährt auch die Kampagnenendbedingungen. Wenn ein Mitspielerin viele Partien überragend gespielt und gewonnen hat, dann kann es also sein, dass ihr Sieg bereits vor Kampagnenende feststeht.
Aber mal ehrlich: Beim Fußball ist es ja auch so. Würde man die Saison abbrechen, weil der Vorsprung von Bayern oder Liverpool uneinholbar ist? Nein, natürlich nicht. Bei My City ist es vielmehr noch so, dass für immer wieder gewinnende Spieler die Rahmenbedingungen peu à peu ein Stück schwieriger werden. Ich persönlich sehe es so, dass die Einzelpartien My City auch noch reizvoll sind, wenn man um den Kampagnensieg nicht mehr mitspielt.
Das Spielgefühl selbst ist dabei ein wenig patchworkesk. Wir versuchen unseren Spielplan möglichst optimal auszufüllen und dabei punktegebende Bedingungen zu beachten. Durch die sich verändernden Spielbretter gehen die Lösungsansätze der Spielenden dabei schnell auseinander. Als grandios empfinde ich dabei, dass jede Partie anders ist. Die Regeln sind stets leicht angepasst. Nie ist der Regelwechsel dabei aber so groß, dass es zu Unsicherheiten kommt.
So bleibt My City über die kompletten 24 Partien ein fesselndes Spielerlebnis. Dabei ist das Grundprinzip des Spiels denkbar einfach. Karte aufdecken, alle platzieren das gleiche Gebäude. Nach spätestens 24 Karten ist Schluss. Wer dabei am optimalsten vorgegangen ist, gewinnt das Spiel. Im Kern in klassisches Tile-Placement-Game. Ein Hauch Patchwork. Ein Schuss Manhattan. Vom Grundspielprinzip her keine enorme Innovation.
Was das Spiel meines Ermessens auszeichnet ist, dass es das Legacy-Spiel-Prinzip auf das Niveau eines Familienspieles herunterbricht. Das ist in der Form meines Wissens nach neu. Weiterhin finde ich das Balancing des Spiels hervorragend und besonders den Catch-Up-Mechanismus vorbildlich gelöst. Sofern sich die Spielenden auf einem ähnlichen Spielniveau bewegen, wird es bei My City zu keinem Runaway-Leader-Problem kommen. Und auch für Spielgewinner sind die Mali nicht so groß, dass sie frustrierend wären und das Spiel kippen.
My City ist dieses Jahr von der Spiel des Jahres Jury auf die Nominierungsliste für das Spiel des Jahres gesetzt worden. Mit dieser Entscheidung gehe ich total mit. Meines Ermessens wäre es ein würdiger Sieger. Gehen wir aber zurück zur Eingangsfrage. Finde ich in My City mein Städtebausimulations-Herzensspiel? Die Frage muss leider mit einem klaren Nein beantwortet werden.
My City ist ein tolles Spiel, an dem ich große Freude habe. Es ist aber ein eher abstraktes Tile-Placement-Spiel. Die blauen Gebäudeteile bleiben bis zum Ende der Kampagne im Kopf blaue Plättchen und eben nicht Industrieplättchen. My City ist ein schönes, herausforderndes Puzzle in 24 Akten. Ein Gefühl dabei wirklich eine Stadt aufzubauen, kam bei mir aber nie auf. Die Spielgrafik von Michael Menzel ist funktional und tut ihren Job. Das Herz erwärmt sie aber nicht. Die Gebäude lassen sich nach Farben trennen. Um zu erkennen, was welches Gebäude darstellen soll oder wofür welche Farbe steht, dafür bedarf es aber ein wenig Fantasie. Die Gebäudeplättchen werden also weitgehend ohne Geschichte/Hintergrund platziert. Ob das jetzt ein Wohnhaus war? Who knowns? Weiterhin kommt "unsere Stadt" komplett ohne Einwohner aus.
Auch dies ist dem Städtebaufeeling ein wenig abträglich. Wir lassen leere Gebäude auf eine tier- und menschenlose Landschaft niederschweben.
Hinzu kommt, dass nach in der Regel weniger als 30 Minuten Schluss ist, Punkte gezählt, Fortschrittspunkte und Boni/Mali vergeben werden und dann abgeräumt wird. Aus die Maus mit unserer "einzigartigen Stadt". Die Geschichte von My City wird zwar in den Umschlägen weitererzählt, beginnt aber auf dem Spielplan stets von Neuem mit dem Platzieren des ersten Gebäudes.
Spielmechanisch macht das total Sinn, funktioniert klasse und macht Freude. Es kommt nur eben nicht wirklich das Gefühl auf eine Stadt zu bauen. Wir könnten ebenso gerade ein Patchwork nähen. Kurzum: Wer wirklichen Städtebau sucht, der wird mit My City wahrscheinlich nicht glücklich werden.
Spielern und SpielerInnen, welche Freude an Spielen wie Patchwork oder Cottage Garden haben und sich auf eine Legacy-Kampagne einlassen mögen, denen sei My City wärmstens ans Herz gelegt. Zu bedenken möchte ich an dieser Stelle noch geben, dass das Spiel einer festen Runde bedarf. Wenn man es zu zweit, dritt oder viert spielt, dann muss man es in genau dieser Konstellation über 24 Partien auch zu Ende bringen. Bedenken sollte man auch, dass wenn man mit nur zwei Spielern loslegt, locker die Hälfte des Spielmaterials in den Umschlägen ungenutzt lässt. Man wird es nie wieder brauchen. Ein- oder Ausstieg sind nämlich nicht vorgesehen.
Wen einmal die Puzzlelust gepackt hat, der wird letzteres sicher auch nicht wollen. 24 mal knapp 30 Minuten sind für Legacy-Kampagnen nun auch eher noch ein kleines Zeitinvestment. Danach bleibt dann noch das ewige Spiel. Vielleicht heisst es nach 24 Partien dann aber einfach auch mal wieder sich etwas anderem zuzuwenden. Eventuell einem DOS-Emulator und Spielen, welche Tornados über Städte wehen lassen...
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My City von Reiner Knizia
Erschienen bei Kosmos
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